Ein Liederabend zum Träumen
Vom Leiden, Sehnen, Lieben, Leben, Sterben in der Passionszeit
Auch in diesem Jahr haben sich die Klangräume e.V. etwas Besonderes für ihr Konzert in dieser vorösterlichen Zeit ausgedacht.
Abseits der viel aufgeführten Passionen stellt der Chor den Wechsel der Jahreszeit und die damit verbundene Stimmung in den Vordergrund und bietet ein Programm mit fein abgestimmter Musik, durch die Jahrhunderte und von Komponisten verschiedener Nationen. ‚Ich lieg und schlafe ganz mit Frieden’ lautet das Motto zu einem innigen, friedlichen, ruhigen Abend.
Die Aufführung findet in der Epiphanien-Kirche Winterhude statt. Der Eintritt ist frei, und sehr viele Zuhörer haben den Weg hierher gefunden: Die Kirche ist voll.
2010 schlossen sich 3 eigenständische Musikgruppen zu Klangräume e.V. zusammen: der Chor Altona, das Vokalensemble Capella Peregrina und das Kleine Kantatenorchester Altona. Die heutige Aufführung wird von der Capella Peregrina gestaltet. Wir hören im Sopran Ulrike Bremer, Wiebke Kaiser und Esther Soltau, im Alt Astrid Hake und Anja Bednarz, im Tenor Jonathan Gable und Kai Schneeweiß und Stefan Kreutz im Bass. Alle SängerInnen agieren sowohl solistisch als auch chorisch. Das Violoncello spielt Andreas Kaiser, Mitglied des Kleinen Kantatenorchesters.
Die musikalische Leitung hat Ute Weitkämper. Sie spielt heute auch am Flügel und am Spinett.
Glory to thee, my God, this night
Thomas Tallis (1505-1583) war ein englischer Komponist in Zeiten der Reformation. Er schrieb hauptsächlich vokale Musik, vor der Reformation für die katholische Liturgie, danach vornehmlich für anglikanische Gottesdienste. ‚Glory to thee, my God, this night’ ist ein Kanon, der an eine Hymne erinnert. Die erste Strophe wird feierlich unisono gesungen, dann wechselt die Stimmbesetzung von Tutti über Soli der Frauen und der Männer. Auch die Melodie variiert in den einzelnen Strophen leicht. Schon hier hören wir klare, feste Stimmen. Ein feierlicher Einstieg!
Nun führt uns Stefan Kreutz mit liebevollen Worten in den Abend ein. Den ersten Teil des Programms beginnt er mit einem Text aus ‚Die Leiden eines Amerikaners‘ von Siri Hustvedt. Es geht hier um den Beginn einer Liebe, die ein Leben lang halten sollte.
… von Liebe und Sehnsucht
Surge, surge, amica mea
Dieterich Buxtehude (ca. 1637-1707) war ein im dänischen Helsingborg geborener Organist. Zunächst in seiner Geburtsstadt an der Marienkirche tätig, wechselte er später nach Lübeck. Er schrieb unzählige Kantaten, einige Oratorien und den Passionszyklus ‚Membra Jesu nostri’. Johann Sebastian Bach nahm ihn zum Vorbild und lief vom thüringischen Arnstadt zu Fuß nach Lübeck, um bei Buxtehude Unterricht zu nehmen.
‚Surge, amica mea‘ ist dem Zyklus ,Membra Jesu nostri’, dem 4. Teil ‚Ad latus‘, entnommen. Wir hören einen Text aus dem Hohelied der Liebe: ‚Erhebe dich, meine Freundin, meine Schöne‘. Passend dazu beginnt eine schwingende, fröhliche Musik, die an Tanzmusik der damaligen Zeit erinnert. Die SängerInnen werden vom Spinett und dem Cello begleitet. Sie singen andächtige, innige Passagen, die sich mit bewegten Teilen abwechseln. Dabei ist der Sopran in den Höhen wunderbar sicher und klar.
Surge propera amica mea
Ivan Moody (1964 – 2024) wurde in London geboren. Ab 1990 lebte er in Lissabon, wo er Professor für Komposition an der Academia de Artes e Tecnologias lehrte. Er war beeinflusst vom ostkirchlichen liturgischen Gesang und von der orthodoxen Kirche, deren Mitglied er war. Sein ‚Surge propera amica mea‘ zeigt das deutlich. Der Choral wird a cappella gesungen. Nur die Männerstimmen erklingen zunächst in klaren Linien, nah und doch fern, wie ein Gebet, später setzen die Frauen ein und führen die Melodie fort.
Northern Lights
Ola Gjeilo ist ein 1978 in Skui geborener norwegischer Komponist. ‚Northern Lights’ erklingt in lateinischer Sprache und erinnert, somit umso mehr, an gregorianische Gesänge. In diesem wunderschönen a capella Satz kommen die Frauenstimmen zum Strahlen, während die Männer sie mit kurzen Passagen unterstützen. Die Melodie des Satzes passt zum Text ‚pulchra es – Du bist schön‘, sie wiederholt sich ständig in allen Stimmen. Hell und scheinbar mühelos lässt der Sopran uns die Nordlichter erahnen, bis sie im Aushauchen der letzten Töne des Alt zart verschwinden.
Bei der Minimalbesetzung eines vierstimmigen Chores mit nur 8 SängerInnen, was den Klang sehr durchsichtig macht, und einer solch fassbaren Melodie ist es eine besondere Herausforderung, diesen Satz so wunderbar, klar, wie in fremden Sphären, zu singen, wie wir es heute hören durften!
Set me as a seal
John Leavitt (* 1956) ist ein amerikanischer Komponist und Arrangeur, der hauptsächlich in Kansas, aber auch als Gastdirigent tätig ist, z.B. in der New Yorker Carnegie Hall und dem Kennedy Center for the Performing Arts in Washington DC. Die Melodie seines Kanons klingt nordisch und zeugt vom Sehnen nach Liebe, die stärker ist als der Tod.
Zur Einführung in den Mittelteil des Programms liest Stefan Kreutz nun einen Text aus ‚Nachts‘ von Mercedes Lauenstein. Er beschreibt eine Person, die nachts durch die Straßen geht, auf der Suche nach einem Fenster, das noch beleuchtet ist, und betet, dass dieses Licht nicht erlischt.
… vom Wachsein und Schlafen
Komm, Trost der Welt
Christian Lahusen (1886-1975) wurde in Argentinien geboren und 1899 nach Deutschland geschickt, um hier ein Gymnasium zu besuchen. Ein Studium der Musik in Leipzig brach er nach kurzer Zeit ab. Nach dem ersten Weltkrieg arbeitete er freiberuflich als Kapellmeister an verschiedenen Schauspielhäusern. Seine Kompositionen waren vorwiegend geistliche und weltliche Vokalwerke. Mehrere seiner Lieder finden wir im evangelischen Gesangbuch und im Gotteslob wieder.
Sein Werk ‚Komm, Trost der Welt‘ ist die Vertonung eines Gedichtes von Joseph von Eichendorff. Es besingt eine Sehnsucht, die in den Worten gipfelt: ‚Laß ausruhn mich von Lust und Not, bis daß das ewige Morgenrot den stillen Wald durchfunkelt‘. Die Melodie dazu ist in allen Stimmen schlicht und wunderschön. Ist es die Sehnsucht nach der stillen Nacht oder schon mehr? Der Chor singt den Text andächtig, ausdrucksvoll, sehnend, strahlend, träumend, ruhend.
The blue bird
Charles Villiers Stanford (1852-1924) war ein irischer Komponist, er war Professor für Komposition in Cambridge und London und trug zur Erneuerung der englischen Musik bei (‚English Musical Renaissance’). Seine umfangreichen Kompositionen werden jedoch nur noch selten aufgeführt.
Der Text zu ‚The blue bird’ ist einem Gedicht von Mary Elizabeth Coleridge entnommen und erzählt von einem Vogel mit blauen Flügeln, der über einen blauen See fliegt. Die wiederkehrenden Einwürfe im Sopran lassen uns den blauen Vogel fliegen sehen, während der Chor warm und weich seine Stimmen darunter legt. Auch bei diesem schlichten Lied zeigt sich wieder die Tonsicherheit der Sängerinnen. Diesmal ist es der glasklare Sopran, der den Satz leise, leise enden lässt.
Komm, Jesu, komm
Johann Schelle (1648-1701) sang bereits im Alter von 7 Jahren in der Sächsischen Hofkapelle Dresden unter Heinrich Schütz, später im Thomanerchor in Leipzig, wo er von 1677 bis zu seinem Tod Thomaskantor war. Die von ihm komponierten, erhaltenen Choralkantaten sind die ältesten dieser Gattung.
Der fünfstimmige Choral erzählt von den Mühen und Vergeblichkeiten des Lebens und hofft auf Jesu Kommen, ja bittet darum. Der Chor wird vom Cello und dem Spinett begleitet, der Bass singt ein Solo. Die Melodien sind dabei fröhlich, voller Freude auf die erwartete Erlösung von den zu tragenden Lasten.
Zur Einführung in den letzten Teil liest Stefan Kreutz einen Text aus dem Buch ‚Das Leben ist ein vorübergehender Zustand‘ von Gabriele von Arnim. Er beginnt mit den Worten: ‚Ich wohne gern‘. Die Verbindung zum nachfolgenden Thema liegt nahe. Wohnen zu Hause oder im Hause Gottes?
… vom Leben und Sterben
Ich lieg und schlafe ganz mit Frieden
Joh. Christoph Friedrich Bach (1732-1795) ist das 16. der 20 Kinder J.S. Bachs. Er war Schüler an der Thomasschule und wurde von seinem Vater unterrichtet. Anfang 1750 folgte er dem Ruf des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe nach Bückeburg. 1759 wurde er dort zum Konzertmeister ernannt und übte diese Tätigkeit bis zu seinem Tode aus.
‚Ich lieg und schlafe ganz mit Frieden, denn allein du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne‘, so der Text der Motette nach Versen aus Psalm 4. Sie ist in drei Teile unterteilt. Das Cello begleitet den Chor. Die Musik der ersten beiden Verse erklingt fröhlich, sie vermittelt die Freude darüber, dass Gott dem Betenden Geborgenheit gibt inmitten aller Bedrohungen, so dass dieser ganz mit Frieden schlafen kann. Den Mittelteil bildet eine Fuge, die von den SängerInnen mühelos gesungen wird. Der letzte Teil wird ruhiger, choralgleich endet die Motette.
Komm, o Tod, du Schlafes Bruder
Johann Sebastian Bach (1685-1750), der berühmteste Thomaskantor, hat unzählige Kantaten und Choräle geschrieben. Bevor er sein Amt in Leipzig antrat, war er Kapellmeister in Köthen und widmete er sich der weltlichen Musik, so schrieb er z.B. die Brandenburgischen Konzerte. Er war in Leipzig nicht die erste Wahl, Komponisten wie Georg Philipp Telemann und Christoph Graupner hätten die Verantwortlichen dort lieber gesehen. Und auch Bach zögerte zunächst, dieses Amt anzunehmen. Im April 1723 wird er endlich zum Thomaskantor gewählt. Hier beginnt er nun, geistliche Musik zu schreiben. In den ersten Jahren in Leipzig entstehen unzählige Kantaten. Bis zu seinem Tode bleibt er in dieser Position, und Leipzig wurde wegen seiner Musik weltbekannt.
Dieser wunderbare, ruhige Chorsatz ist der Schlusschoral der Kantate ‚Ich will den Kreuzstab tragen‘. J.S. Bach hat sie für den 19. Sonntag nach Trinitatis komponiert. Der Schlusschoral „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ ist durch seine schöne Melodie bekannt. Johann Franck schrieb im Jahr 1653 hierzu den Text. Wir hören alle 3 Strophen und dazu noch einmal Cello und Spinett.
Abendlied
Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901) wurde in Liechtenstein geboren. Bereits als siebenjähriger war er Organist in seiner Heimatstadt Vaduz und kam im Alter von 12 Jahren nach München, um dort seine musikalische Ausbildung zu beginnen. Er blieb Zeit seines Lebens in München und hatte verschiedene Ämter inne, so auch als Hoforganist an der Hofkirche St. Michael und als Hofkapellmeister des bayerischen Königs Ludwig II. Seine Kompositionen umfassen Kantaten, Messen, Opern, Sinfonien.
Das ‚Abendlied‘ ist ein wunderschöner, schlichter Satz für 6 Stimmen. Hier können die SängerInnen noch einmal ihr Können zeigen. Ruhig und klar singen sie dieses schöne Lied. Der perfekte Abschluss eines so innigen Abends!
Ein lauter ‚Bravo‘ Ruf beendet zu früh die kurze, andächtige Stille. Unser Applaus wird belohnt: ‚Verleih uns Frieden gnädiglich‘, ein Choral, den J.S. Bach in abgewandelten Formen in mehreren Kantaten verwendet hat, erklingt. Ute Weitkämper dirigiert ihn wie alle zuvor gesungenen Werke: bestimmt und ohne Aufregung.
Dieses wunderbare Konzert hallt sicher noch lange Zeit in uns nach.
Marlies Radtke