Fremde Musik schmeichelt sich in unser Ohr
Der Mendelssohnchor und die Kirchdorfer Kantorei lassen den Nordstern leuchten
In dieser voradventlichen Zeit erklingen die Requiems uns bekannter Komponisten oft, und wir hören sie gern. Der Mendelssohnchor Hamburg singt heute zusammen mit der Kirchdorfer Kantorei ein Requiem, das nicht oft aufgeführt wird: Das Requiem von Cyrillus Kreek. Auf dem Programm stehen passend dazu außerdem „Northern Lights“ von Ola Gjeilo aus Norwegen, eine estnische Volkshymne „Sanctus“ von Urmas Sisask, „Musica“ von Pärt Uusberg und „Laudate“ von Knut Nystedt.
Der Mendelssohnchor wurde1997 von Hans-Joachim Lustig gegründet. Nach 20 Jahren mit Almut Stümke übernahm Susan Lahesalu 2022 die Leitung. Sie wurde in Estland geboren und konnte so dem Chor die heute gehörte, ungewohnte Musik gut vermitteln. Die 30 bis 40 SängerInnen führen bekannte Chorwerke auf, überraschen aber auch gern – so wie heute – mit Kostbarkeiten aus anderen Zeiten und anderen Welten, und a cappella können sie auch.
Die Kirchdorfer Kantorei ist der Chor der Kreuzkirche in Kirchdorf. Seine ca. 35 Mitglieder singen geistliche Musik vom 15. bis zum 21. Jahrhundert, gern a cappella, hauptsächlich in Kirchen auf Wilhelmsburg. Einmal jährlich führt die Kantorei ein großes Chorwerk mit Orchester auf. Auch hier übernahm Susan Lahesalu 2022 die Leitung.
Das Hamburg Festival Orchester begleitet die Chöre. Als Solisten hören wir Yuta Wakasa im Tenor. An der Orgel spielt Kata Szabo.
Die hübsche kleine Kreuzkirche ist gut besucht, als um 18 Uhr die Glocken läuten. Malte Detje, Pastor der Gemeinde, begrüßt uns. Er erzählt, dass es ein jüdischer Brauch ist, Samstags um 18 Uhr die Kirchenglocken zu läuten, um damit den Beginn des Sonntags anzuzeigen. Das heutige Konzert, so meint er, findet demnach also am Ewigkeitssonntag statt. Ein schöner Gedanke!
Anschließend stellen uns zwei Akteure ihre Chöre vor und erzählen ein bisschen von deren Geschichte. Hier liegen Freud und Leid nah beieinander. Während der Mendelssohnchor auf eine lange und fruchtbare Zeit mit Almut Stümke zurückblicken und mit diesem Konzert das 25jährige Jubiläum endlich, nach langer Coronaabstinenz, feiern kann, musste die Kirchdorfer Kantorei innerhalb kurzer Zeit von ihrem geschätzten langjährigen Kantor Abschied nehmen.
Endlich betritt Susan Lahesalu die Bühne, und mit ihr erleben wir, was estnische Musik ausmacht. Wir hören zunächst 4 kleine Kompositionen aus ihrer Heimat.
„Muusica“ von Pärt Uusberg
Pärt Uusberg wurde 1986 in Rapla geboren. Dem Text seiner Komposition liegt ein Gedicht des estnischen Dichters Juhan Liiv zugrunde. Er erzählt von der Musik, die in die Seelen der Menschen gelangt. Das Lied ist wie ein ruhiger Fluß. Leise beginnen die Frauen, dann die Männer, die klar und sicher klingen, schließlich der gesamte Chor. ‚Muusica’ ist ein sanftes Volkslied in estnischer Sprache, das zart und leise endet. Ein guter Einstieg mit einem Thema, das uns heute Abend alle verbindet!
Northern Lights von Ola Gjeilo
Ola Gjeilo ist ein 1978 in Skui geborener norwegischer Komponist. ‚Northern Lights’ erklingt in lateinischer Sprache und erinnert, somit umso mehr, an gregorianische Gesänge. Die kurze, schöne Melodie des Satzes passt zum Text ‚pulchra es – Du bist schön‘, sie wiederholt sich ständig in allen Stimmen, und der Sopran bringt im Mittelteil die Nordlichter mühelos zum Strahlen. Der Satz endet mit den Frauenstimmen, wobei im Alt die letzten Klänge fast bis zur Unhörbarkeit ausgehaucht werden.
Laudate von Knut Nystedt
Knut Nystedt (1915 – 2014) war ein norwegischer Komponist. Wir hören einen kurzen, kräftigen, frohen Lobgesang, ebenfalls in lateinischer Sprache, der dem Liedtext ‚Laudate – lobet den Herrn’ sehr gerecht wird.
„Sanctus“ von Urmas Sisask
Urmas Sisask, ein estnischer Komponist (1970 bis 2022), wurde ebenfalls in Rapla geboren. Das ‚Sanctus‘ erklingt in seiner Heimatsprache, lieblich wie ein Abendlied, mit einheitlicher Melodieführung in allen Stimmen, mal ganz zart, mal wie eine Hymne. Der Satz endet mit einem bestimmten, strahlenden ‚vägede Jumal – Gott Zebaoth’. Eine wunderschöne Musik.
Diese 4 Lieder, ohne Unterstützung eines Instumentes sauber gesungen, zeugen von guter Stimmbildung durch Susan Lahesalu. Respekt!
Cyrillus Kreek wurde 1889 in Estland geboren. Er studierte am Konservatorium in St. Petersburg und war später als Musiklehrer an verschiedenen Schulen und als Dozent am staatlichen Tallinner Konservatorium tätig. Daneben leitete er zahlreiche Chöre. Sein Interesse galt dem estnischen Volksliedergut. Er sammelte diese Melodien und brachte sie in seine Kompositionen ein, die er hauptsächlich für Chöre schrieb. Kreek gilt als einer der bedeutendsten estnischen Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Das Requiem von Kreek ist das erste, das auf einen estnischen Text komponiert wurde. Hierbei orientierte sich Kreek am Text von Mozarts Requiem. Die Uraufführung fand am 20.10.1929 in Tallinn statt. Erst später wurde der lateinische Text vom Komponisten hinzugefügt. Heute hören wir die ursprüngliche Fassung. Die Besetzung erfordert einen 4stimmigen Chor, einen Solo Tenor sowie Orchester.
Was wir in den ersten 4 Kompositionen schon gehört haben, wird nun zur Vollendung gebracht. Der gut 40 SängerInnen umfassende Chor beherrscht den Wechsel der Intonation perfekt, bringt die Stimmung in allen 7 Sätzen gut zum Ausdruck. Im Programmheft sind die estnischen Texte nachzulesen. Es sind für unsere Augen unaussprechliche Wörter. Diese so fremden Texte zusammen mit weitgehend fremden Melodien dem Publikum so eindrücklich darzubringen, ist eine gewaltige Leistung.
Das Orchester tritt in voller Besetzung auf, mit Blechbläsern, Pauke, Harfe, sogar ein Glockenspiel ist erforderlich.
Nach einigen harmonischen Akkorden der Bläser im Introitus
erklingt zum ersten Mal – und wir werden ihn noch öfter hören – im Horn ein bekannter Glockenschlag. Wird er nicht vom Big Ben zu einer bestimmten Uhrzeit so geläutet? Die Hornistin spielt ihn perfekt, zuerst im forte, dann im pianissimo. Der Gesang klingt zunächst feierlich, leise, wie ein Gebet, mit einer schlichten Melodie, wechselt mit zurückhaltenden Blechbläsern ab. Im Mittelteil etwas sich steigernd, endet der Satz zart mit der Bitte ‚Kyrie eleison – Herr erbarme Dich‘.
Fanfarenartig beginnen die Blechbläser das Dies irae, bevor der Chor eine fugenartige Sequenz hat. Schon hier wird die Musik dem Text gerecht: Dies irae – Tag des Zorns. Verschiedene Solobläser wechseln sich ab, ebenso die Männer- und Frauenstimmen. Die Tuttieinsätze mit gesamter Orchesterbegleitung erklingen wütend und kraftvoll mit für unsere Ohren fremden Klängen. Ein fulminanter Schluss durch sich wiederholende Akkorde im fortissimo im Orchester beendet diesen zornigen Satz.
Das Recordare leiten die Bläser im Stakkato ein, begleitet vom Pizzicato der Streicher. Wir hören einen zunächst ruhig dahinfließenden Chorgesang, der sich teilweise unisono steigert, eindringlich bittet, dann wieder leise fleht (vergib uns unsere Sünden), ruhig hofft (möge mir dann Freude geschenkt werden). Es folgt ein großer Abschluss mit Pauken und Bläsern.
Demütig beginnen im Oro supplex nur wenige Streicher in den tiefen Lagen, zart, geheimnisvoll setzt der Chor ein. Sein Gesang erklingt wie ein Gebet. Frauen- und Männerstimmen, teilweise im Wechsel, steigern sich, finden zusammen in der Bitte: Schenke den Seelen Frieden. Nach einer kurzen Fanfare der Blechbläser endet der Satz in einem zarten, von den Flöten unterstützten Amen.
Im Domine Jesu beginnt der Solo Tenor, singt mit kräftiger Stimme andächtig ein opernhaftes Motiv. Er wird von der Harfe begleitet. Der Chor wiederholt die Melodie. Nach kurzem, bewegten Zwischenteil wird der Beginn wiederholt. Ein von leichtem Trommelwirbel begleitetes Orchester beschließt den Satz. Eine schöne, einschmeichelnde Musik!
Nach kurzem Horneinsatz zu Beginn des Hostias folgt ein einheitlicher schlichter Chorgesang, der sich schnell ins Fortissimo steigert bis zur Bitte: ‚Führe uns, oh Barmherziger, aus dem Grab in das Paradies’. Der Schluß wird von einem Trommelwirbel unterstützt, ein Orchesterakkord beendet den Satz.
Im Sanctus hören wir einen fanfarenartigen Anfang im Orchester, den Ruf des Chores (Heilig, heilig, heilig), dem ein ruhiger Gesang folgt. Das Hosianna wird in einer Fuge gesungen, der Ruf zieht sich bis zum Ende durch, sich steigernd in Chor und Orchester. Ein Trommelwirbel und wieder ein kräftiger Orchesterakkord erklingen zum Schluß. Ein ungewöhnliches Sanctus!
Leise beginnen die Streicher das Agnus Dei mit einer einfachen, eingängigen Melodie, die der Chor wiederholt. Nach einer kurzen, bestimmten, kräftigen Zwischensequenz des Chores mit einer abgewandelten Form des Motivs folgt wieder der anfängliche, ruhige Gesang. Kreek greift nun auf die Melodie des Introitus zurück. Wir hören wieder den Chorgesang, das Horn mit seinen wunderbaren, sauberen Klängen und das Glockenspiel. Der Chor beendet den Satz unisono in Begleitung der Streicher, piano und wie in der Ferne. Zum Schluß ein zweimaliges Pizzicato in den Streichern, wobei wir schon genau hinhören müssen, so zart ist es.
Susan Lahesalu führt mit klarem, exakten Dirigat, die SängerInnen sind aufmerksam und folgen ihr genau. Der Sopran sticht immer wieder mit klaren Tönen in den Höhen hervor, während der Alt in den warmen Tiefen beständig präsent bleibt. 12 Männer sind im Chor anwesend, ihr Gesang harmoniert immer sicher mit den Frauenstimmen.
Wir sind begeistert von diesem eindrücklichen Werk aus einer anderen Welt. Das lassen die Zuhörer den Chor und das Orchester auch wissen. Der Applaus will nicht enden und hat Erfolg. Zwei Zugaben werden uns geschenkt: Vom Namensgeber des Mendelssohnchores das wunderschöne, bekannte ‚Verleih uns Frieden gnädiglich‘, und noch einmal das ruhige, strahlende ‚Sanctus‘ von Urmas Sisask.
So gestärkt gehen wir nach Hause – durch den Ewigkeitssonntag der Adventszeit entgegen.
Marlies Radtke